Gemeinsames Statement des SJZ react!OR und der Initiative „Kempten gegen Rechts“ zu den „Grundrechte-Demos“ mit direktem Bezug auf Kempten

 

Wir, das SJZ react!OR in Kempten, haben uns gemeinsam mit der Initiative „Kempten gegen Rechts“ mit den seit einigen Wochen bundesweit stattfindenden, sogenannten „Grundrechte-Demos“ beschäftigt. Um uns selbst ein Bild zu machen, haben wir uns den Protest in Kempten vor Ort angeschaut und haben dazu ein Statement verfasst, das aufgrund der Komplexität der Inhalte und aufgrund möglicher neuer Entwicklungen innerhalb der Protestbewegung, aber nicht abschließend ist:

Protest und Widerstand für Grundrechte und Freiheit – gegen einen autoritären Staat – sind grundsätzlich notwendig. Es ist wichtig Entscheidungen der Politik und mögliche Auswirkungen und Folgen abzuwägen, kritisch zu hinterfragen und (öffentliche) Debatten darüber anzustoßen und zu führen. Dabei sollte sich aber strukturell mit der Funktionsweise von Kapitalismus und all seinen negativen Folgen und Auswirkungen auseinandergesetzt werden.

Der Protest „für die Grundrechte“ in Kempten (und weitere an anderen Orten im Allgäu und bundesweit) tut dies allerdings nicht. Es gibt außerdem keine erkennbar konkret formulierte Kritik bezüglich der Einschränkungen, keine Forderungen, Vorschläge für Alternativen oder Ähnliches.
Außer der Empörung über die „Corona-Maßnahmen“ insgesamt und explizit die Mund-Nasen-Schutzmasken-Pflicht im ÖPNV und beim Einkaufen, wird zwischen den Maßnahmen weder differenziert noch wird eine klare Kritik an den unterschiedlichen Maßnahmen und ihren Auswirkungen formuliert und diesbezüglich Forderungen gestellt.
Stattdessen wird der Protest geprägt von zahlreichen Hinweisen darauf, dass nicht wenige der Protestierenden davon überzeugt sind, hinter den „Corona-Maßnahmen“ stecke ein geheimer Plan der Regierung oder die Pandemie sei gar gänzlich eine Lüge. Dazu kommen Warnungen vor vermeintlichen Zwangsimpfungen. Zum Zweck der hinter all dem stecken soll, grassieren unterschiedliche Spekulationen und Theorien, die alle samt auf eine geheime Verschwörung mächtiger Eliten, die „das Volk“ unterdrücken und kontrollieren wollen, hinauslaufen.

Viele der Demonstrant*innen verstehen sich selbst als diejenigen, die im Gegensatz zum großen Rest der Bevölkerung wirklich kritisch denken und schon lange oder eben nun endlich aufgewacht sind, um den noch schlafenden Teil der Bevölkerung mit ihren Erkenntnissen zu erleuchten. Das Spektrum dieser Erkenntnisse umfasst vereinfachte Welterklärungen und Verschwörungsmythen, die auf den Demos in unterschiedlicher Form vertreten werden.

Wer hinter strukturellen Verhältnissen, die es grundsätzlich immer zu kritisieren gilt, mächtige Eliten wittert, die geheime Absprachen träfen, um das „unschuldige Volk“ hinters Licht zu führen, kippt Wasser auf die Mühlen der neuen und alten Rechten.
Strukturell sind Verschwörungsideologien Ausdruck des antisemitischen Ressentiments (Ausdruck einer auf Vorurteilen, einem Gefühl der Unterlegenheit, Neid o. Ä. beruhende gefühlsmäßige, oft unbewusste Abneigung).
Der Glaube, im Geheimen wirke eine mächtige Gruppe finsterer Verschwörer*innen, ist historisch aufs Engste mit der Vorstellung verwoben, Jüdinnen und Juden seinen diese Gruppe. Sie dienen – ebenso wie eine Alltagsreligion – dazu, die eigene Ohnmacht zu überwinden. Sei es gegenüber einem mächtigen Staat, einer globalen Pandemie oder einem, unser gesamtes Leben durchdringenden Kapitalismus. Außerdem bieten sie ein greifbares Feindbild, das in einer komplexen Welt schwer zu finden ist.

Bei den Demonstrationen treffen unterschiedliche Menschen aufeinander, die sicher nicht alle diversen Verschwörungsideologien anhängen, weshalb hier keine Pauschalisierung erfolgen sollte. Grundsätzlich ist die Motivation für Grund- oder andere Rechte zu demonstrieren zu begrüßen. Einige ahnen allerdings nicht, dass sie hier gemeinsam mit Menschen demonstrieren, die mehr oder weniger dem rechten Spektrum zuzuordnen sind. Viele reflektieren aber auch nicht über eigene problematische Positionen, oder rechtfertigen das Demonstrieren mit rechten oder rechtsoffenen Personen mit dem Argument der freien Meinungsäußerung. Eine klare Abgrenzung ist hier also nicht erkennbar.

Wer – ob nun wissentlich oder nicht – mit AfDler*innen, Reichsbürger*innen, Antisemit*innen, Verschwörungsideologie-Anhänger*innen und rechten Esoteriker*innen (oder auch mit Nazis) für ein vermeintlich gleiches „Ziel“ auf die Straße geht, bildet einen Schulterschluss mit Rechts, ignoriert oder erkennt nicht die Gefahr, die von Rechts ausgeht, treibt den Rechtsruck in der Gesellschaft voran und ermutigt andere Menschen dazu, sich einer solchen Querfront ebenfalls anzuschließen. Durch das entstehende Gemeinschaftsgefühl, das durch „den Kampf für ein gemeinsames Ziel“ entsteht, steigt die Bereitschaft zur Offenheit (und damit die Anfälligkeit) anderer Teilnehmer*innen für rechte Inhalte und Verschwörungsideologie, welche längst nicht mehr nur auf zu belächelnde „Aluhut-Träger*innen“ reduziert werden kann. Immer wieder folgen ihren abstrusen Ideen blutige Taten, wie z. B. der rassistische Anschlag in Hanau gezeigt hat.

Die „Grundrechte-Demos“, an denen sich rechtsoffene Personen beteiligen, bieten also einer gefährlichen Querfront eine Plattform und fungieren als Bindeglied in eine rechtsextremistische Szene. Das lässt sich problemlos auf der Homepage „nichtohneuns.de“ nachlesen: Die verschwörungsideologisch geprägten Texte sprechen eine Sprache, die viele Parallelen zu Pegida und Co. aufweisen.

Wer sich für Rechte und Freiheit einsetzt, sollte diese nicht nur für sich selbst tun, sondern für alle Menschen und das nicht nur im Zuge von vorübergehenden Einschränkungen während einer Pandemie. Denn auch unabhängig von den „Corona-Maßnahmen“ gab, gibt und wird es Menschen geben, denen Freiheit, Grund- und Menschenrechte gezielt verwehrt bzw. nicht im selben Maße zugestanden werden, wie bspw. deutschen oder europäischen Staatsbürger*innen. Menschen, die aus Diktaturen (in denen weder Meinungs-, Presse-, Religions- noch Versammlungsfreiheit herrscht) nach Europa fliehen, auf dem Weg dorthin zum sterben im Meer oder in der Wüste zurückgelassen oder gezwungen werden in Lagern unter menschenunwürdigen Bedingungen zu leben, stellen hier ein mehr als beklagenswertes Beispiel für entrechtete Menschen dar.

Wer Rechte nur für sich selbst einfordert und dabei auch noch außer Acht lässt, dass die Maßnahmen viele andere Menschen schützen sollen, und wer diese Maßnahmen aufgrund von Mutmaßungen gezielt missachtet, handelt egoistisch und unsolidarisch gegenüber besonders gefährdeten Menschen und jenen, die nicht die Möglichkeit haben sich selbst zu schützen und auch gegenüber denjenigen, die tagtäglich versuchen Andere zu schützen, zu unterstützen, gegen die Ausbreitung der Pandemie ihre „Köpfe hinhalten“ und dadurch teilweise massiven physischen und psychischen Belastungen ausgesetzt sind.

Mit dem Recht auf Versammlungsfreiheit muss verantwortungsbewusst umgegangen werden, um nicht das eigene Recht zulasten anderer durchzusetzen, ob nun im Bezug auf die Schutzmaßnahmen oder im Bezug auf problematische und gefährliche Inhalte.
Die Verbreitung von rechten und verschwörungsideologischen Inhalten und auch unsolidarisches, verantwortungsloses Verhalten, das möglicherweise Menschen gefährdet, wollen und können wir nicht unkommentiert lassen und fordern die Teilnehmer*innen der Demonstrationen dazu auf, sich inhaltlich mit unserer Kritik auseinander zu setzen und sich von jeglichen rechten Inhalten, Personen und Verschwörungsideologien zu distanzieren und entsprechende Personen und Inhalte konsequent von Versammlungen und anderen Zusammenhängen, auszuschließen.

Wir rufen außerdem zu kreativem Protest (gegen die Querfrontbildung) auf, bei dem das Wohlergehen aller Menschen im Vordergrund steht. Sendet Botschaften in Form von Bannern und Plakaten an euren Balkonen und Fenstern, mit Kreide auf dem Asphalt oder was auch immer euch sonst so alles einfällt, sprecht mit eurem Umfeld, mischt euch in die Debatte ein, zeigt eine klare Haltung gegen Rechts und bekundet eure Solidarität mit allen Menschen, die im Zuge der Maßnahmen und darüber hinaus zurückgelassen werden!

Auch wir sehen in der gegenwärtigen Krise viele Risiken, aber auch die große Chance, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und sich für eine menschenfreundliche Welt einzusetzen!
Wir fordern Gesundheitsversorgung, Sicherheit und Freiheit für alle!
Dazu gehören für uns:
– der Zugang zu medizinischer Versorgung und Infektionsschutz für Schutzbedürftige und Menschen in besonderen, gefährdenden Lebenssituationen (wie Menschen ohne festen Wohnsitz oder Krankenversicherung, Menschen in Lagern und Sammelunterkünften, Gefangene etc.)
– die Evakuierung der Lager in Griechenland
– die Entprivatisierung der Pflege und Krankenhäuser
– die bedingungslose Sicherung des Lebensunterhalts aller Menschen
– die Nutzung der vielen Möglichkeiten für politischen Protest

Bleibt solidarisch. Bleibt kritisch. Und zeigt klare Haltung gegen Rechts.