Beitrag einer Intensivpflegerin aus München

In der aktuellen Situation werde ich und meine Kolleg*nnen oft gefragt, was die Pflege braucht, was man genau für sie tun müsste um die Situation zu verbessern. Das wird dann meist gefolgt von einem „Ich könnte das ja nicht.“. Früher hatte ich für diese Aussage nur ein inneres Augenverdrehen übrig. Jemand außenstehenden zu erklären, was es heißt sich um andere Menschen zu kümmern, Verantwortung für Leben und Wohlbefinden zu übernehmen und das alles mit eigenen Bedürfnissen und Grenzen zu vereinen ist nicht einfach. Aber irgendwo müssen wir ja anfangen.
Wir brauchen ZEIT. Gute Pflege braucht Zeit.
Wir brauchen Zeit, um auch dem ängstlichen Patienten Maßnahmen dreimal zu erklären.
Wir brauchen Zeit, um die Hand eines Sterbenden bis ganz zum Schluss halten zu können.
Wir brauchen Zeit, um vorherzusehen, was alles an Komplikationen aufkommen könnte und uns darauf vor zu bereiten.
Wir brauchen Zeit, um unseren Patient*innen nach drei Wochen Beatmung zu helfen das erste Mal wieder aufzustehen.
Wir brauchen Zeit, um mit Familienangehörigen zu sprechen und ihnen zu erklären, weshalb der Vater an Weihnachten doch nicht zuhause sein wird und warum die Medikamente, die sie gegooglet haben nicht in Frage kommen.
Wir brauchen Zeit, um unsere Patient*innen durch die beschissensten Momente ihres Lebens zu begleiten und alles zu tun, dass diese nicht zu einem Trauma werden.
Aber Zeit ist teuer. Und ein System, in dem wir absurderweise mit kranken, behinderten oder alten Menschen Profit erwirtschaften müssen, kann sich Zeit für Pflege nicht leisten.
Ich arbeite seit 14 Jahren in der Pflege und sehe den Kreislauf immer wieder. „Wir stellen keine Pflegekräfte mehr ein, wir müssen sparen.“
„Oh Wunder wir können unsere Versorgung nicht garantieren weil wir zu wenig Personal haben, wo sind all die Pflegekräfte, was können wir für den Pflegemangel tun?“
Die Pandemie hat keinen Pflegemangel verursacht, die Pandemie hat ihn aufgedeckt. Sie gibt uns allen den letzten Rest, den letzten Mittelfinger des Systems.
Es wird Zeit diesen Kreislauf zu durchbrechen. Es wird Zeit für ein solidarisches System, in dem die Gesundheit und das Wohlbefinden der PatienInnen immer an erster Stelle stehen!

Zu Beginn der ersten Welle kam ein großer Hoffnungsschimmer der Veränderung auf, wir alle haben uns gehört gefühlt und waren überzeugt, dass jetzt endlich alle sehen wie ABSURD es ist in einem Gesundheitssystem Profite erwirtschaften zu müssen.
In der ersten Teambesprechung nach der Welle wurde uns dann aber sofort erklärt dass man mit der Bettenreduzierung und den Sanierungsmaßnahmen selbstverständlich weiter machen wird, dass wir jetzt den Sommer über möglichst viel erwirtschaften müssen weil durch die vielen Coronapatienten so viel Geld verloren gegangen sei. Und achja, danke für Ihre Arbeit.
Was geblieben ist in der vierten, fünften oder dreihundersten Welle ist der bittere Geschmack der Resignation. Mehr als ein Schulderzucken und Zynismus haben wir auch für Omicron nicht mehr übrig.
Wir sind da, wir sind weiterhin da. Und im Gegensatz zur öffentlichen Debatte würde von uns auch niemandem einfallen, ungeimpfte Patienten weniger gut zu betreuen wie geimpfte. Wir sind uns unserer gesellschaftlichen Verantwortung nämlich bewusst. Auch wenn in ein paar Monaten kein Hahn mehr nach uns kräht, wenn Pflegekräfte nicht mehr in Talkshows eingeladen werden und Kamerateams nicht mehr über die Stationen gehen. Wir sind immer da.
Aber wir werden weniger. Weil Luft, Liebe am Helfen und Berufung leider keine Miete zahlen. Weil die Angebote in privaten Einrichtungen und Zeitarbeitsfirmen einfach zu lukrativ sind und bessere Konditionen bieten.
Zurück bleiben leere kommunale Häuser und Klinikvorstände, die sich wundern wie das denn sein kann, dass der Kapitalismus plötzlich in BEIDE Richtungen funktionieren muss, wieso man plötzlich Personal mehr Geld zahlen soll wenn der Markt leergefegt und die Nachfrage groß ist? Immerhin machen wir das doch alle aus Überzeugung und Nächstenliebe!
Ich will GAR keinen Kapitalismus im Gesundheitssystem! Ich will verdammt nochmal einfach nur die Zeit, die es braucht meine Patienten vernünftig zu versorgen und dafür genügend Gehalt, dass es sich lohnt an Weihnachten nicht bei meiner Familie zu sein, am Wochenende nicht auf eine Feier, Sonntags nicht ausschlafen zu können und wegen jahrelanger Nachtarbeit einem erhöhten Krebsrisiko ausgesetzt zu sein.
Ich will nicht beurteilen, ob es finanziell Sinn macht eine Behandlung für meine Patient*innen zu begleiten.
Ich will beurteilen, was genau individuell, situativ und ethisch für alle das Richtige ist.
Wenn wir zwei Ziele haben – nämlich das scheffeln von Geld UND die Gesundheit der Menschen – werden wir immer wieder an den Punkt kommen, an dem wir uns für das eine oder das andere entscheiden müssen. Diesen Kompromiss möchte ich nicht eingehen, das ist nicht die Gesellschaft die ich mir wünsche. Wir sind immer nur so stark wie unser schwächster Teil und wie wir mit den kranken, alten und nicht funktionierenden Teilen der Gesellschaft umgehen ist für mich Indikation von Fortschritt.
Wenn man uns einfach machen lässt, kann gute Pflege so unglaublich viel bewegen.
Gute Pflege kann ein grausamen Schicksalsschlag in erträgliche Momente verwandeln, gute Pflege kann Schmerzen und Ängste nehmen, das Gefühl geben endlich mal in seinen Sorgen ernst genommen zu werden, Komplikationen voraussehen, medizinische Maßnahmen überflüssig machen, Leben retten und mit Humor Lachen in traurige Gesichter zaubern.
Wir können so viel, wir sind so wichtig und es ist an der Zeit, dass wir uns die Plattform nehmen, die uns gehört!
Gebt uns die Ressourcen neue Generationen selbstbewusst und kompetent auszubilden, bezahlt uns vernünftig für die harte Arbeit, gebt uns die Zeit die wir brauchen und ihr werdet sehen, dass Pflege Berge versetzen kann.
Weil wir ALLE früher oder später Pflege brauchen werden.